… kann auf eine nunmehr sechzigjährige Tradition zurückblicken, denn im Schuljahr 1958/1959 wurde erstmalig ein Förderkurs für zwanzig junge Spätaussiedler eingerichtet, die später ihr Abitur mit Russisch als erster Fremdsprache ablegten.

Die jungen Leute kamen überwiegend aus Polen, aber auch aus anderen osteuropäischen Ländern mit sowjetisch geprägten Regimen.

Als ich im Jahre 1982 mein Referendariat am Marien-Gymnasium antrat, mühte sich mein Kollege Michael Schwiertz, der Russisch fachfremd unterrichtete, mit riesigen Kursen, die auch von Schülerinnen des Ursulinengymnasiums besucht wurden, mit dem wir damals, was das Fach Russisch anbelangt, auch in der Unter- und Mittelstufe kooperierten. Entsprechend froh war Michael Schwiertz, in mir jemanden gefunden zu haben, mit dem er die Last teilen konnte.

Der Unterricht fand – auch für die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe – am Nachmittag, manchmal auch erst am Abend statt. Trotz dieser Bedingungen sind mir die Kurse meiner ersten Jahre in sehr positiver Erinnerung, da die Schülerinnen und Schüler überwiegend hoch motiviert waren, die Sprache des "Intimfeindes" zu erlernen und dessen Land im Rahmen von Studienfahrten zu erkunden.

Ihr Eifer beschränkte sich aber nicht nur auf das Russische, sondern zeigte sich auch in den anderen, vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern, so dass es gar nicht so selten vorkam, dass Aussiedler am Ende ihrer Schulzeit die besten Zeugnisse der Stufe überreicht bekamen.

Für uns Lehrer, ab dem Jahre 1995 verstärkte Beata Mucha das Team und Michael Schwiertz zog sich ganz aus dem Fach zurück, war der Russischunterricht  insofern reizvoll, als die Zielsprache für die Schülerinnen und Schüler zwar eine Fremdsprache war, sie jedoch Vorkenntnisse hatten und sich das Russische über ihre Muttersprache vergleichsweise rasch erschließen konnten. Daher war ein Unterricht auf hohem Niveau möglich, der sich zudem vorteilhafterweise richtlinien- und lehrplankompatibel durchführen ließ.

Anders wurde es, als im Jahre 1988 der erste Schüler aus der Sowjetunion zu uns kam, dem dann rasch viele weitere folgten, bis die Kurse nur noch aus Muttersprachlern bestanden. Plötzlich sprachen die Schüler in aller Regel besser Russisch als die sie Unterrichtenden. Die Richtlinien und Lehrpläne des Fachs gaben so gut wie keine Orientierung mehr.

Beata Mucha konzentrierte sich auf die Sekundarstufe I, ich legte meinen Schwerpunkt auf die Sekundarstufe II. Ein völlig eigenständiges Schulcurriculum musste her, das im "Forum 11" abgedruckt ist.

Nicht mehr die Sprachvermittlung stand im Vordergrund, sondern Methodentraining auf der Grundlage sämtlicher Textarten und Gattungen. Hier hatten die Schülerinnen und Schüler, bedingt durch das anders strukturierte Schul- und Unterrichtswesen in ihrem Heimatland, erhebliche Defizite. So bot der Russischunterricht nicht nur eine Möglichkeit, Texte kennenzulernen, die in Rußland nicht auf dem Lehrplan standen, sondern er war auch eine Hilfe zur Integration in den anderen Fächern.

Die Studienfahrten führten uns nun nicht mehr nach Rußland, sondern ins näher gelegene Polen, nach Krakau, Auschwitz, Wieliczka und Zakopane.

Die bisherigen Ausführungen sind im Imperfekt abgefasst. Warum ist das so?

Die Lage hat sich zwischenzeitlich deutlich gewandelt. Zum letzten Mal haben am Ende des Schuljahres 2006/2007 Schülerinnen und Schüler im Leistungsfach Russisch ihr Abitur abgelegt. Von in den neunziger Jahren vierzehn Kursen war dieser Leistungskurs der letzte seiner Art am Marien-Gymnasium.

Selbstverständlich wird das Russische weiterhin gepflegt; nur ist die Schülerschaft nun eine andere.

Seit dem Schuljahr 2002/2003 bieten wir Russisch als dritte Fremdsprache ab der Klasse neun, nach der Umstellung auf G8 ab der achten Klasse für Einheimische an. Von dieser Wahlmöglichkeit machen regelmäßig etwa zwanzig Schülerinnen und Schüler Gebrauch, so dass wir guter Hoffnung sind, dass das Russische – trotz bevortsehender Konkurrenz durch das Spanische – nicht nur überleben, sondern wachsen und gedeihen wird. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistet Christina Kasemir, die die Fachschaft seit 2015 verstärkt.

Ein in seiner Wirkung nicht zu unterschätzendes förderliches Moment ist unser Schüleraustausch. Direkt nach Mauerfall und Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums wagten im Jahre 1991 zum ersten Mal Schüler des Marien-Gymnasiums eine Reise nach Rußland, und zwar nach Veselaja Lopan', einem Ort in der Nähe der südrussischen Großstadt Belgorod.

Nach vier Jahren wurde diese Verbindung wegen der jeweils dreitägigen strapaziösen An- und Abreise beendet, und seit 1996 unterhält das Marien-Gymnasium eine intensive Partnerschaft mit der Mittelschule Nr. 3 in Luga, 140 Kilometer südwestlich von St. Petersburg.

Alle zwei Jahre kommen russische Schüler zu uns, erleben den Schulalltag, lernen außer Werl die Städte Köln, Münster, Paderborn und Soest kennen; vor allem aber nehmen sie am Familienleben ihrer Partner teil, finden mit ihnen eine gemeinsame Sprache.

Gleiches gilt für die Marien-Gymnasiasten, die sich manchmal schwertun mit dem bisweilen mangelnden Komfort in den russischen Gastfamilien, worunter die Intensität der Beziehungen jedoch nicht leidet.

Die Russen bieten uns neben Zielen in der Nähe Lugas Besuche Nowgorods (zweitältester russischer Fürstensitz nach Kiew), Puschkins (Sommerresidenz der Zaren), Peterhofs (Zarenschloß am Finnischen Meerbusen mit atemberaubender Anlage des Parks) zum Abschluß drei Tage St. Petersburg mit seinen unzähligen Sehenswürdigkeiten.

Viele Austauschschüler haben noch nach Jahren Kontakt mit ihren Partnern, manche haben sich privat wiederholt getroffen.

Fazit: Durch Begegnung entstehen Freundschaften zwischen jungen Menschen, deren Kulturen traditionell miteinander eng verbunden und sich schon deshalb nicht so fremd sind, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.

Diese internationale Begegnung wird dankenswerterweise gefördert durch die "Schola Mariana".

 

Dr. Jörg Kaltwasser

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